Die menschliche Jukebox

 

Der Luzerner Michel Richter besitzt über 50 000 Tonträger und blickt auf 50 Jahre DJ-Erfahrung zurück. Er spielt Vinyl-Singles aus einer Zeit, als Hits noch Gassenhauer waren und nicht endlose Streams aus Bits und Bytes. Das kommt bei seinen Gästen gut an. Generationenübergreifend.

 

Von Stefan Zihlmann

 

Es ist Freitagabend. In der Bar 59, vis-à-vis des EWL-Areals in Luzern, drängen sich ungefähr 200 Besucherinnen und Besucher um die Bar in der Mitte des Saales. Das Klientel reicht von der Kantischülerin bis zum Studenten. Der Song «Bicycle Race» von Queen schallt aus den Boxen. Spätestens, als der Refrain einsetzt, singen die Leute laut mit: «Bi-cycle / Bi-cycle / Bi-cycle / I want to ride my bicycle ... » Dieser Song von 1978 stammt aus einer Zeit, als der Begriff «Digital Natives» noch Zukunftsmusik war. Und nun stehen ebensolche in dieser Bar und singen ein Hoch auf eine längst vergangene Ära, als sich Pop- und Rock-Hits noch ins kollektive Bewusstsein bohrten – als sogenannte Evergreens und Gassenhauer. Solche laufen an der Veranstaltungsreihe «Rock’n’Roll-Circus», jeden ersten Freitag im Monat, die ganze Nacht hindurch. Gastgeber und DJ ist Michel Richter. Abseits des allgemeinen Trubels hockt der 65-Jährige mit dem markanten Pferdeschwanz und der runden Brille hinter seinem DJ-Pult und greift zum Mikrofon: «Es folgt nun (I Can’t Get No) Satisfaction› von den Rolling Stones». Ansagen zwischen den Songs zu machen und ausschliesslich mit Vinyl-Singles aufzulegen ist alte Schule. Doch das stört hier niemanden. Im Gegenteil. Ein Teenager tritt ans DJ-Pult und sagt zu Richter, er sei «der beste DJ, der ohne Computer auflegt». Im Zeitalter der digitalen Verfügbarkeit sämtlicher Musik setzt Richter weiterhin auf Vinyl. «Eine Original-Single klingt einfach authentischer als ein elektronisches File. Wenn ich digital auflegen müsste, würde ich den Job an den Nagel hängen».

 

Die Ausnahme bestätigt die Regel

Sein Gesäss an einen Barhocker angelehnt, beugt er sich nach vorne, leuchtet mit einer Taschenlampe in seine Plattenkiste und blättert die Singles wie Karteikarten um. Da steht schon der nächste Besucher neben ihm. Ein schmächtiger Mittzwanziger wünscht sich «The Boys Are Back In Town» von Thin Lizzy. Er muss den jungen Mann vertrösten, da er die Platte nicht dabei hat. Richter greift zu seinem Notizblock, den er an jedem Auftritt bei sich hat und notiert Titel sowie Interpret. Es gehört zu seinem Markenzeichen, dass er die Musikwünsche der Gäste erfüllt.

Dabei jagt er den Originalen von gecoverten Songs oder ganz seltenen Wünschen seiner Stammgäste nach und besorgt diese.

Was wird am häufigsten gewünscht? «Das sind definitiv Songs von den Beatles», sagt Richter wie aus der Pistole geschossen. Anhand der Liederwünsche hat er ein Standardrepertoire aus rund 1300 Platten zusammengestellt und modifiziert diese je nach Anlass. An Senioren-Anlässen im Altersheim packt er auch volkstümliche Lieder mit ein. Da darf «Dr Schacher Seppli» nicht fehlen. Am heutigen Abend heisst das Motto: Hits, Hits, Hits. «Ich kann damit jeweils 95 Prozent aller Wünsche erfüllen», sagt Richter nicht ohne Stolz. Der Song von Thin Lizzy bleibt an diesem Abend die Ausnahme, welche die Regel bestätigt.

An solchen Abenden entscheidet der Massengeschmack. Mit seiner Routine aus über 4000 Auftritten hat Richter den Riecher, zur richtigen Zeit den richtigen Song zu spielen. Als 16-jähriger legte er erstmals in Pfarreiheimen rund um Luzern auf. Nach einer Lehre in einem Reisebüro arbeitete er von 1970 bis 1976 vollberuflich als Plattenaufleger in damals angesagten Clubs in Luzern wie Mascotte, Wienerwald und Hazyland. Seine Eltern waren von seiner Berufswahl anfänglich nicht begeistert. «Mein Vater sagte mir mal, dass die Zeit kommen wird, wo ich alle Platten die Reuss runterwerfen werde, weil es nicht rentiert». Doch es hat damals rentiert und das tut es auch heute wieder. Wenn auch seltener als DJ, blieb er immer der Musik verpflichtet und arbeitete ab 1983 unter anderem als Moderator und Musikredaktor bei Radio Sunshine und beim Musiklabel K-Tel. Seit über zehn Jahren ist Richter wieder hauptberuflich DJ. Seine Auftragsbücher sind voll. Seit Herbst 2017 ist er pensioniert, absolviert aber immer noch zwei bis drei Auftritte in der Woche. Dies in der ganzen Schweiz. Darauf angesprochen, dass er heute ganze acht Stunden hinter den Plattentellern sass, nennt der 65-Jährige zwei Songs: «When I’m Sixty-Four» von den Beatles und «Mit 66 Jahren» von Udo Jürgens und meint lächelnd: «Ich bin mitten im Leben angekommen.»

 

Zwei Tage später legt er in der Louis Bar im Hotel Montana auf. Es ist sein Kontrastprogramm zur strengen Oldies-Disco in der Bar 59. Seit 15 Jahren führt er über das Winterhalbjahr den Good-Old(ies)-Sunday durch. Im Vergleich zur Bar 59 ist der Altersdurchschnitt der Gäste in der mondänen Bar im Art Déco-Stil doppelt so hoch, die Lautstärke halb so laut. Während die Gäste an Cocktails nippen und gebannt den Songs ihrer Jugendzeit lauschen, nimmt Richter einen kräftigen Schluck Bitter Lemon aus einem Glas. Sex, Drugs and Rock'n'Roll sieht anders aus. «Frauengeschichten? Früher ja. Drogen habe ich nie genommen. Und klar, Rock'n'Roll ist ein Teil meines Lebens.» Alkohol trinkt er nur selten und er hat auch nie geraucht. In all den Jahren hat er viele Musiker und DJs erlebt, die ihr Leben lang zu tief ins Glas geschaut haben. «Ich wollte nie, dass meine Visitenkarte lautet: Er ist ein guter DJ, hat aber immer etwas Öl am Hut.» Zuverlässigkeit und Kontrolle sind ihm wichtig. Hier blitzt wieder der gewissenhafte Dienstleister auf, für den es essenziell ist, einen ordentlichen Job zu machen – nichts fürchtet er mehr als eine Platte, die ohne Übergang ins Leere läuft.

 

Apropos: Der Song neigt sich dem Ende zu. Der DJ packt sein verchromtes Elvis-Mikrofon und sagt mit einer weichen und freundlichen Stimme: «Das waren die Eagles mit dem Song Lyin' Eyes›», gleichzeitig schiebt er den Regler am Mischpult mit seiner linken Hand langsam nach unten und lässt den Song behände ausklingen. Nun folgt, was Michel Richter am Good Old(ies)-Sunday am liebsten macht: Zu jedem Song und jedem Künstler passende Geschichten und Anekdoten erzählen. «Die Eagles werden wahrscheinlich nie mehr auf Tour gehen, dies weil ihr Sänger und Gitarrist Glenn Frey vor zwei Jahren starb.» Und er geht weiter ins Detail, erzählt, dass die Eagles 1998 in die Rock'n'Roll-Hall-of-Fame aufgenommen wurden. Und dass den Dire Straits im letzten Jahr auch diese Ehre zuteil wurde. Seine Moderation schliesst er mit der nächsten Ankündigung: «Wir kommen zum nächsten Wunsch, CCR, mit: Long as i can see the Light›». CCR steht für Creedence Clearwater Revival, aber diesen Bandnamen muss er hier nicht ausformulieren, die Bar ist gefüllt mit Musik-Connaisseuren, die meisten zugleich langjährige Stammgäste. Als er an diesem Abend versehentlich den Tonarm des Plattenspielers streift, kratzt die Nadel laut über die Platte. Geistesgegenwärtig greift er zum Mikrofon und sagt: «Die Leute haben immer rüüdig Freude, wenn eine Panne passiert. Das kenne ich noch aus meinen Radiotagen.» Seine Selbstironie kommt beim Publikum an, wie jeden Sonntag ist es ein Heimspiel für Richter.

 

Zeitreise statt Nostalgie

Wenn er nicht hinter den Plattentellern steht, bietet er seit einem Jahr auf Anmeldung Führungen durch sein Musikarchiv an, das über 50 000 Tonträger umfasst. Die Hälfte davon lagern in einem Luftschutzkeller fünf Fahrminuten von seinem Wohnort in Horw. Die andere Hälfte liegt in seiner 5 1/2 Zimmer-Wohnung im vierten Stock. Dort stapeln sich im Archivzimmer etwa 25 000 Single-Platten in den Regalen: Unterteilt in Musikstile und alphabetisch geordnet von A wie Abba bis Z wie ZZ Top.

 

Er ist keiner dieser pathologischen Sammler, die ihre Schätze still und leise zu Hause horten. Richter möchte seine Musik teilen. Ist er ein Nostalgiker? «Ich biete den Leuten eine Zeitreise in die Vergangenheit an, dorthin, wo Musik Erinnerungen aus der Versenkung holt.» Und er fängt an, aus seiner Kindheit in Norddeutschland Mitte der 1950er-Jahre zu erzählen, wo er als Kleinkind die ersten Jahre verbrachte, bevor seine Eltern mit ihm in die Schweiz zogen. Sein Grossvater besass eine Radiotruhe, gefüllt mit deutschen Schlagern und Seemannsliedern. «Opa, Platten», sagte er jeweils zu seinem Grossvater, der dann einen neuen Satz Singles in den Plattenwechsler legte. Das Radio steckte im Nachkriegsdeutschland noch in den Kinderschuhen, die Radiotruhe war sein Fenster in die weite Welt. Michel Richter redet gerne und viel, vor allem über Musik. Nur wenn es um seine familiären Verhältnisse geht, kommt er ins Stocken. Seine Ex-Frau hat seit der Scheidung den Kontakt zu seinen drei Kindern unterbunden. Aber darüber möchte er nicht sprechen.

 

Stattdessen holt der Jäger und Sammler stolz eine seiner Trouvaillen aus dem Regal. Es ist die Single «Ninety Nine Years (dead or alive)» von Guy Mitchell aus dem Jahr 1956. Vorsichtig legt er die Scheibe auf seinen von Holz ummantelten Plattenspieler. Ab dem ersten Takt wird klar, wieso James-Bond-Fan Richter an dieser Platte hängt. Sie klingt wie das James-Bond-Theme, aber nur beinahe: John Barry, der Komponist der 007- Erkennungsmelodie, hat bei diesem Song schamlos abgekupfert. Was heute Juristen auf den Plan rufen würde, war zu dieser Zeit üblich. «Auch Polo Hofer hat geklaut», Richter nennt als Beispiele „Giggerig“ (im Original „Soul Shake“) oder den «Kiosk», den Polo National bis auf den Text nahezu eins zu eins von Little Feats «Dixie Chicken» kopierte.

 

Statistik statt Algorithmus

Auch wenn er stundenlang über seine Platten sprechen kann, ein klassischer Nerd ist er nicht, musikalische Nischen sind für die DJ Arbeit nicht sein Ding. Das Geheimnis seines Erfolgs als DJ liegt in einem schwarzen Moleskine-Notizbuch verborgen. Seit Beginn seiner DJ-Karriere 1968 sammelt Richter die Musikwünsche seiner Besucherinnen und Besucher und wertet sie statistisch aus. Er schlägt die erste Seite des alphabetisch geordneten Buches auf, in der sich Interpreten und Songtitel in die Häuschenzeilen zwängen. Auf dieser Seite ist mit Abba auch die Band festgehalten, die am meisten verschiedene Songwünsche aufweist – es sind 36 Songtitel. «Ob Hochzeiten, Geburtstage, Senioren-Nachmittage oder Disco-Abende, diese Statistik bildet den Massengeschmack ab.» Spotify in Analog.

 

Gegenüber dem Plattenregal hängen Dankeskarten seiner Fans an den Wänden. Ausgedruckte E-Mails gespickt mit Komplimenten und blumigen Superlativen, wie im Mail von Regina, die schreibt: «Vielen Herzlichen Dank, es war kein einfach nur ausgeführter Auftrag›, es war eine emotionale Darbietung mit viel Herzblut! Wir fühlten, du warst einer von uns.» Es sind diese Zusprüche seiner Fans, die ihn ins Schwärmen bringen und ihn motivieren, jede Woche an drei bis vier Veranstaltungen hinter den Plattentellern zu stehen. Sicher noch fünf Jahre möchte er weitermachen, denn dann ist das 20-Jahre-Jubiläum seiner Good-Old(ies)-Sunday-Veranstaltung. Dann wird Michel Richter, seines Zeichens dienstälterster professioneller DJ der Schweiz, 70 Jahre alt sein. Seine Evergreens sind zeitlos und er auch.